Marseille – Eine Metropole im filmischen Blick
Die zweitgrößte Stadt Frankreichs ist oft als Kontrapunkt zur Zentrale Paris stilisiert worden. Die Lage am Mittelmeer, die Geschichte bis weit in die Antike hinein und die Vielfalt seiner Menschen, gerade auch aus dem arabischen Raum, grenzen sie von der Metropole an der Seine ab. Diese Besonderheiten haben sie bereits früh für Filmemacher interessant gemacht und es ist ein Verdienst von Daniel Winkler, diese faszinierende Stadt aus filmischer Sicht zu betrachten.
Bei der Betrachtung der Stadt im filmischen Blick bietet der Autor in einem breiten Überblick die Vielfalt, mit der sich Filmemacher dem Ort nähern. Dabei greift er vor allem das Klischee der Gangstermetropole auf, das sich weltweit bei vielen Menschen spätestens mit dem Klassiker „French Connection“ (USA, 1971) eingebrandt hat. Dass er diese Darstellung Marseilles als Fluch bezeichnet, weist aber den Weg durch das Buch. Dabei ist Daniel Winkler gerade im einführenden Teil eine fundierte Analyse gelungen, wie Städte – und hier gerade diejenigen aus der zweiten Reihe – im Film eine eigene Dimension erhalten können, wenn ihre Geschichte und Kultur aufgegriffen wird.
Im Kern des Buches wird dann aber der Blick auf die Stadt auf vier Perspektiven reduziert, die von Regisseuren geprägt werden, deren Wurzeln dort liegen. Sehr kenntnisreich analysiert Winkler die Werke von Marcel Pagnol, Paul Carpita, René Allio und Robert Guédiguian. Pagnols Trilogie über die Stadt verortet er in der Folklore, die sich aus einer Handlung rund um den Alten Hafen und einer Welt speist, die schon in den 30er Jahren so nicht existent war. Paul Carpita würdigt er als Klassenkämpfer, der den Streiks der Hafenarbeiter in den 50er Jahren mit „Le Rendez-Vous des Quaies“ (F, 1955) gegen jede staatliche Einflussnahme ein Denkmal setzt. In René Allio sieht er den Filmemacher, der mit der klassischen Form des Kriminalfilms das ureigene städtische Thema der Immigration in den Mittelpunkt rückt. Auch in Guédiguians „Marius et Jeanette“ (F, 1997) sieht er eines der elementaren Viertel der Stadt, den Estaque, in einer klassischen Liebesgeschichte widergespiegelt.
Dabei verhehlt Winkler nicht seinen artifiziellen Ansatz des filmischen Erzählens. Rückbezüge auf Brecht, Verweise auf zitierte Filme und eine detaillierte Interpretation einzelner Szenen zeigen seinen Standpunkt, in dem der Film eine gesellschaftlich bildende Funktion hat. Diese Klarheit ist Stärke und Schwäche des Buches zugleich. Mit einem solchen Ansatz ist es nicht möglich, das aus seiner Sicht nachrangige populäre Kino ausreichend zu berücksichtigen. So werden wichtige Orte wie das Chateau d’If, das über die zahllosen Verfilmungen des „Grafen von Monte Christo“ seinen Weg in die Filmgeschichte gefunden hat, zur Marginalie. Auch Erfolgsfilme wie die „Taxi“-Reihe von von Luc Besson (F, 1988ff) und der eingangs erwähnte Film „French Connection“ sind Fußnoten. Damit klammert der Autor leider wesentliche Felder aus, die für die Stadt aus filmischer Sicht ebenso bedeutsam sind.
Ein Reiseführer ist „Marseille – Eine Metropole im filmischen Blick“ nicht. Es ist ein verengter Blick auf die Stadt am Mittelmeer, bei der der Autor seiner Sympathie und Haltung freien Lauf lässt. Wer sich darauf einlässt, erlebt einen detaillierten Blick, der aber am Ende leider einiges offen lässt.
Daniel Winkler: Marseille – Eine Metropole im filmischen Blick, Marburg, 2013, Schüren Verlag, 24,90 €
o.kettmann Februar 10, 2014 Allgemein